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  • cnaegler7

Vom Radfahren

Seit zwanzig Jahren etwa machen wir größere Radtouren, früher auf die maximal vier Urlaubswochen berechnet und geplant, seit zwei Jahren mit dem Gefühl der theoretischen Unendlichkeit. Es ist jedes Mal eine radikale körperliche Erfahrung: Wir starten „aus der Schreibtischhaltung“, das heißt, nur sehr mäßig trainiert, und unterziehen unsere Körper der Tortur der unvermittelten täglichen Grenzerfahrung. Alles bleibt zurück oder ordnet sich dem täglichen Rhythmus aus Tagesplanung, Packen, Fahren und Quartiernehmen unter. Es ist nicht unser Ziel, möglichst viele Kilometer täglich „zu machen“, auch wenn oft die erste Frage von Freunden und Reisebekanntschaften genau darauf zielt. Aber ich will mich „in die Fremde“, weg vom Gewohnten, Gesehenen, Vertrauten begeben. Wir fahren in der Regel zu Hause los und – und das ist das Schöne – lassen es Tag für Tag ein bisschen mehr hinter uns. Für Wochen beschränken sich die Dinge unseres täglichen Bedarfes auf den Inhalt zweier Gepäcktaschen, im Vorfeld fein abgewogen, was mitdarf und was zu Hause bleiben muss. Marseille und Gdansk, Helsinki und St. Petersburg, Bordeaux und Kaliningrad haben wir auf diese Weise bereist.


Das Interessant auf einer solchen Reise ist das Sehen. Im Flugzeug staunt man neben der Entscheidung zwischen Cola und Tomatensaft über die Wolkenmeere, nach ein paar Stunden ist man dann unvermittelt in einer anderen Welt. Im Zug kann man das Dahingleiten der Landschaft genießen, die Geschwindigkeit ermüdet jedoch, so dass wir nach einer Weile meistens unser Buch oder ein Schläfchen bevorzugen. Auch im Auto ist die Geschwindigkeit zu hoch, um Einzelbilder auf sich wirken zu lassen, zumal die Aufmerksamkeit durch den Fahrprozess als solchen in Anspruch genommen wird. Die Fußgängerin kann langsam und gründlich sehen, aufgrund der Langsamkeit der Fortbewegung ändern sich die Bilder jedoch auch nur langsam. Das gibt Zeit und Raum für Entdeckungen im Makroskopischen, dann kommt man allerdings nicht voran.


Radfahren ist in vielerlei Hinsicht ein wunderbarer Kompromiss. Man durchquert an einem Tag oft die vielfältigsten Landschaften, dabei fährt man langsam genug, um zu sehen, die Bilder in sich aufzunehmen, das Sehen zum Denken werden zu lassen. Man kann jederzeit Anhalten, um genauer hinzuschauen. Man kann vom Rad steigen und Stift oder Pinsel nehmen, um ein Bild intensiver zu erfassen. (Richtig, dann kommt man nicht voran.) Es entsteht eine Sinfonie der Bilder, mit Harmonien, schroffen Dissonanzen, wechselnden Tempi und Dynamiken. Klar, es gibt Abschnitte, die den Körper so stark fordern, dass das Sehen zurücktritt (kleiner Tipp: mit dem e-Bike reduzieren sich diese Abschnitte erheblich) und es gibt Abschnitte, während derer man mit der Sicht nach innen, mit Reflexion und Meditation beschäftigt ist. Aber am Abend eines Radreisetages ist man nicht nur erschöpft und hungrig, man ist auch gesättigt mit Bildern, Farben, Übergängen, Schönheit und Bizarrem. Und wir fragen uns, wohin damit, wie sortieren, verdauen, verarbeiten.

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