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Hermine

Es gibt gute und schlechte Menschen. Die guten wachen im Morgengrauen auf, reiben sich die Augen und beginnen damit, gute Laune um sich herum zu verbreiten. Sie erheben sich federnd aus den Kopfkissen, öffnen das Fenster - wenn sie nicht schon bei offenem Fenster geschlafen haben, genießen die frische Morgenluft und freuen sich über den neuen Tag. Die schlechten Menschen wachen morgens nicht von allein auf. Wenn nichts dagegenspricht, schlafen sie bis in den Mittag, räkeln sich noch ein Weilchen im weichen Bett, rauchen dort eine Zigarette, bis sie sich geruhsam und wenig euphorisch aus dem Laden schälen. Meistens spricht jedoch etwas dagegen, zum Beispiel wenn sie, wie Hermine, ins Büro müssen.

Hermine war ein schlechter Mensch. Sie hatte es wieder verschlafen, ein bisschen nur, aber doch so viel, dass sie absehbar nach mühevoller Hetze einige Minuten zu spät im Büro sein würde. Sie konnte jedoch auch, wie die Versuchung ihr eingab, die fortgeschrittene Zeit ignorierend in ihrem üblichen geruhsamen Morgentrott verfallen, dann wäre sie eine Stunde zu spät auf Arbeit und müsste sich eine richtige Ausrede einfallen lassen. Im ersten Fall wäre der leichten Verfehlung mit einem flotten Spruch Genüge getan Hermine ging die Liste der möglichen Ausreden auf der Suche nach einer noch nicht verbrauchten durch. Keine Chance, ihr Spielraum war bereits erschöpft. Nicht immer ist Wiederholung die Mutter der Weisheit, manchmal schmälert sie einfach die Glaubwürdigkeit.

Eine Viertelstunde später saß sie übelgelaunt in der U Bahn. Hinter ihr lag die Vertreibung aus dem Paradies, vor ihr ein mutmaßlich wenig inspirierende Bürotag. Hermine war Mathematikerin. Mathematikerinnen erinnern die meisten Menschen an eigenes Versagen, weswegen ihnen gemeinhin eine diffuse Mischung aus Misstrauen und Bewunderung entgegengebracht wird. Außerdem gelten Mathematik und Weiblichkeit als widersprüchlich, die Erotik weibliche Logik ist genauso wenig begriffen, wie die Logik weiblicher Erotik. Hermine jedenfalls hatte die Mathematik zwar nie aufgegeben, aber nicht zu dem Geld machen können, was nötig war, um sich und die Zwillinge durchzubringen. Also hatte sie „was mit Computern“ angefangen und saß nun in der Falle. Die Zwillinge Franz und Fridolin waren groß und in der Welt, und sie fuhr ins Büro.

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